[New Commerce]

Der Konsu­ment wird zum Logsument

Von Prof. Ulrich Müller-Steinfahrt
Neue Ideen braucht das Land: Wenn Bürger zum Logis­tik­dienst­leister und Walk-In-Stores, 24/7‑Lebensmittelautomaten sowie „White Label“-Paketstationen zum stillen Helfer im länd­li­chen Raum werden.
Citylogistik

Digi­taler Selbst­be­die­nungs­laden: Der Lebens­mit­tel­ein­zel­händler Tegut hat „Teo“ einge­führt.
© TEGUT

Klappt das mit der Online-Bestellung? Kommt die Ware recht­zeitig und unver­sehrt bei mir an? Liegt das Paket im Garten oder vor der Haustür? Alles Fragen, die doch in der Stadt weitest­ge­hend gelöst sind und keine Probleme beim Empfänger aufwerfen. Aber im länd­li­chen Raum, in dem in klei­neren Städten und Dörfern die Empfänger wohnen, ist das anders. Hier sind logis­ti­sche Versor­gungs­kon­zepte erfor­der­lich, jenseits der Hoff­nung, alleine mit Online-Bestellungen die tägli­chen Bedarfe zu decken.

Mehr als 25 Jahre wurden unter dem Etikett „City­lo­gistik“ Konzepte entwi­ckelt, Maßnahmen erprobt, teils wieder einge­stellt oder verste­tigt. Ein langer Erfah­rungs­pro­zess, bei dem die Maßnahmen bekannt sind und oft aus kommu­naler Sicht indi­vi­dua­li­siert auf die jewei­lige Situation­ zuge­schnitten werden. Für den länd­li­chen Raum fehlen Erfah­rungs­werte, welche Lösungs­an­sätze für eine rurale Versor­gungs­lo­gistik geeignet sind.

Fehlende Mobi­li­täts­an­ge­bote

Urba­ni­sie­rung und „Land­flucht“, oft ausge­löst durch die unzu­rei­chende Versor­gung im länd­li­chen Raum wie durch den Wegfall von lokalen Versor­gungs­mög­lich­keiten des tägli­chen Bedarfs, Schlie­ßung von Bildungs­ein­rich­tungen, fehlende Präsenz ärzt­li­cher Dienste oder das einge­schränkte Angebot an Betreuungs‑, Ausbildungs‑, und Quali­fi­zie­rungs­mög­lich­keiten, sind ein Treiber für zuneh­mend wenig attrak­tive Räume mit geringer Bevöl­ke­rungs­dichte. Unzu­rei­chende Mobi­li­täts­an­ge­bote eines oft defi­zi­tären ÖPNV schränken die Erreich­bar­keit von Versor­gungs­mög­lich­keiten ein.

Bei ausrei­chender Band­breite der Daten­lei­tungen scheint die Versor­gung via E‑Commerce eine Option, bei der die Zustell­lo­gistik der Paket­dienst­leister aber an wirt­schaft­liche Grenzen stößt. Geringe Stopp­zahlen, lange Wege zwischen den Empfän­gern sowie eine geringe Erst­zu­stel­lungs­quote beim Endemp­fänger bei hohen Service­er­war­tungen hinsicht­lich Liefer­zeiten und Liefer­fenster prägen die Situa­tion. Die geringe Dichte an Abhohl-/Ablieferstationen im „zersie­delten“ Raum erschweren die Über­gabe oder gar die Retou­ren­ab­wick­lung – wenn etwa bis zu 10 Kilo­meter gefahren werden müssen, um ein Paket zu retournieren.

Zudem haben nicht alle Bürger, insbe­son­dere der älteren Gene­ra­tion, Zugang zu Online-Bestellsystemen. Über­dies sind die meisten Lebensmittel-Onlinehändler regional begrenzt oder schließen bestimmte Liefer­ge­biete aus (Bring­meister, myTime, marktfee). Ähnli­ches gilt auch für die Lebens­mit­tel­ein­zel­händler, die im länd­li­chen Raum Liefer­dienste anbieten. Alter­na­tive flächen­deckende Versor­gungs­sys­teme, die nicht primär durch Paket­zu­steller gesi­chert sind oder auf ausrei­chende Mobi­li­täts­an­ge­bote für Fahrten zur nächsten Einkaufs­stätte setzen, sind gefragt.

Mit dem System können Kunden auch außer­halb der übli­chen Laden­öff­nungs­zeiten Waren einscannen und online bezahlen.
© TEGUT

Fulfill­ment neu gedacht

In vielen Gemeinden hat sich aus der Not ein Enga­ge­ment entwi­ckelt, sich gegen­seitig zu unter­stützten und zu helfen. Bürger­liche Ener­gie­ge­nos­sen­schaften (Gemeinde Unsleben in Unter­franken), Einkaufs­dienste für Mitbürger, Fahr­ge­mein­schaften zur Einkaufs­stätte oder der Betrieb eines Dorf­la­dens als sozialer Treff­punkt und Service­ein­rich­tung sind Belege hierfür. Digi­tale Dörfer, die über eine Platt­form Nach­bar­schafts­dienste koor­di­nieren, sind ein zuneh­mend verbrei­tetes Konzept. Die gegen­sei­tige Unter­stüt­zung kann sich auch auf das Fulfill­ment von Online-Bestellungen beziehen. Pendeln doch viele Berufs­tä­tige meist allein täglich zu ihren Arbeits­plätzen und könnten ­Pakete für ihr Dorf und/oder ihre Gemeinde mitnehmen. Ride-Pooling, das heißt Mitfahr­ge­mein­schaften nicht nur für Personen, sondern auch Güter unter Einbezug von Trans­porten, die ohnehin statt­finden. Check Robin in Öster­reich, Über­Bringer (Berlin), Trunksta (Köln, Düssel­dorf), Co-Carrier (Berlin) oder Packator Heroes in München und Berlin bieten diese Crowd Deli­very mittels App primär in Städten an.

Ähnlich auch die Nutzung von Taxis für die Paket­be­lie­fe­rung in München oder einige Start-ups, die Geschäfts­rei­senden Pakete mitgeben. Um die Mitnah­me­op­tion sinn­voll für den länd­li­chen Raum zu gestalten, könnten Paket­dienste an frequenten Park-and-ride-Plätzen Paket­au­to­maten für die Über­gabe an Bürger, die dann die letzte Meile abwi­ckeln, instal­lieren. Der Konsu­ment über­nimmt für sich oder andere dann logis­ti­sche Trans­port­dienste und wird zum Logsument. Mögliche Über­ga­be­punkte im Ort können Gast­stätten, Gemein­schafts­häuser oder Dorf­läden sein. Für die Paket­zu­steller erhöht sich der Dropf­aktor pro Stopp und diese können zeit­lich entkop­pelt die Paket­sta­tionen befüllen und Retouren entnehmen.

Mit den Erfolgen der Direkt­ver­markter, ihre lokalen Produkte über Auto­maten anzu­bieten und zu verkaufen, wurden diese zuneh­mend als Einkaufs­mög­lich­keit erwei­tert und im länd­li­chen Raum aufge­stellt. Lebens­mit­tel­au­to­maten, plat­ziert in Gemein­schafts­häu­sern zentral in Dörfern, ersetzen den fehlenden Tante-Emma-Laden und ermög­li­chen einen tägli­chen 24-Stunden-Einkauf. Auto­ma­ten­an­bieter wie Stüwer berichten von der Nutzung der Dorf­au­to­maten als Über­ga­be­op­tion von online bestellten Lebens­mit­teln oder Wunsch­ar­ti­keln, die dort indi­vi­duell abge­holt werden können. Dies funk­tio­niert laut Stüwer nicht nur in Dörfern. So gebe es einen erfolg­rei­chen Automaten-Marktplatz am Bahnhof in Frei­burg. Dort seien mehrere Auto­maten optisch anspre­chend für einen Einkaufs­bummel aufgestellt.

Rewe & Co. testen

Mit ähnli­chem Ziel, ein Einkaufen jeder­zeit zu ermög­li­chen, testen Lebensmitteleinzelhändler­ Walk-In-Stores. Tegut hat „Teo“ als digi­talen Selbst­be­die­nungs­laden einge­führt, in dem Bürger mit einer App Zugang zu den Waren erhalten, sie einscannen und digital bezahlen können. Rewe eröff­nete bereits die vierte 24-Stunden-Einkaufsbox. Unter dem Label „Fritz’ nahkauf Box“ wird in einem 1.000-Einwohner-Dorf in Sachsen die Versor­gung mit frischen Lebens­mit­teln und rund 800 Produkten des tägli­chen Bedarfs auf einer Verkaufs­fläche von knapp 40 Quadrat­me­tern bargeldlos betrieben. Die Logistik für die Bestü­ckung bezie­hungs­weise Belie­fe­rung dieser „Über­ga­be­sys­teme“ ist durch die gebün­delte Anlie­fe­rung von Produkten respek­tive Bedarfen – da zeit­lich entkop­pelbar – wirt­schaft­lich inter­es­sant. Ebenso, wenn man mit mobilen Pack­sta­tionen agiert, die an bestimmten Tagen als „Drop-Station“ von Paket­be­stel­lungen oder Retouren im länd­li­chen Raum bereit­ge­stellt werden.

Koope­ra­tive Lösungen gefragt

Ein weiterer Stell­hebel für neuar­tige Ansätze sind koope­ra­tive Lösungen in Zeiten, in denen Zusteller gesucht sind und eine wirt­schaft­liche Zustel­lung – außer in Misch­ge­bieten – im länd­li­chen Raum kaum möglich ist. „White Label“-Lösungen, etwa eine gemein­same oder neutrale Paket­sta­tion fest oder mobil im länd­li­chen Raum, können eine konso­li­dierte Bestü­ckung und Entsor­gung ermög­li­chen. Oder ein Über­ga­be­punkt eines Landlogistik-Hubs, bei dem die Pakete für die Last-Mile-Belieferung in Koope­ra­tion ausge­lie­fert werden, wäre ein weiterer Ansatz. Glei­ches gilt auch für den „Betrieb“ von gemein­samen Mikro­hubs in Städten, in Ballungs­zen­tren oder im länd­li­chen Raum in still­ge­legten Bahn­höfen. Voraus­set­zung wäre ein offener oder neutral mode­rierter Daten­aus­tausch über eine Vernet­zungs­platt­form. Anknüp­fungs­punkt könnten hier auch regio­nale Platt­formen sein, auf denen lokale Händler­ ihre Waren und das Fulfill­ment anbieten und einen gemein­samen Landlogistik-Dienstleister nutzen. Das ist zum Beispiel in der Stadt und im Land­kreis Hof als neuar­tiges Busi­ness Model angedacht.

Neue Lösungen braucht das Land, am besten auch eine syste­ma­ti­sche Entwick­lung und einfache Erpro­bung in städ­ti­schen und ruralen Real­laboren. Dabei sind Unter­nehmen, kommu­nale Verant­wort­liche und Bürger gefragt, etwa unter Mode­ra­tion von Metho­den­ex­perten von Hoch­schulen, Lösungen für das Land zu entwi­ckeln. Ein „physical internet“, bei dem alle Transport­optionen des ÖPNV, Privat-Pkw, Zustell­fahr­zeuge oder Taxis vernetzt und für Waren- und Perso­nen­trans­porte hybrid nutzbar sind, wäre sicher­lich so eine disrup­tive Lösung. (tof)

Professor Ulrich Müller-Steinfahrt leitet das Institut für ange­wandte Logistik (IAL) an der Tech­ni­schen Hoch­schule in Würz­burg und gilt als Experte für inno­va­tive Versor­gungs­lö­sungen im urbanen und länd­li­chen Raum